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Bewerbungsrede auf der Vertreterinnen- und Vertreterversammlung der LINKEN in Bonn

Helmut Scholz begründet seine Kandidatur für die Bundesliste der Partei DIE LINKE zur Wahl des Europäischen Parlaments am 26. Mai 2019

Helmut Scholz (Foto: Uwe Völkner/ FOX)

Liebe Genossinnen und Genossen,

worum geht es am 26. Mai? Es geht darum, welche politischen Kräfte im EU-Parlament Gesetze erlassen werden, die unser aller Leben zutiefst beeinflussen. Ja, es geht um Macht.

Ich will nicht, dass in einer sich so dramatisch ändernden Welt mehrheitlich Abgeordnete von Parteien eines Orban, einer Le Pen, eines Salvini oder gar Vox die Gesetzgebung im Europäischen Parlament beeinflussen. Oder dass es einfach nur so weiter geht wie bisher. Das darf nicht sein!

Und ehrlich: Ich bin es leid, dass wir uns in der Partei in EU-Befürworterinnen und -Befürworter oder –Gegnerinnen und Gegner aufspalten. Marx hat richtigerweise gesagt: Proletarier aller Länder - die gender-gerechte Sprache hatte er noch nicht drauf - vereinigt Euch. Wir leben in einer Welt, in der die Wertschöpfung global erfolgt und wo Umsatzgewinne transnational agierender Unternehmen das BIP vieler Länder übersteigen. Wir leben in einer Welt, in der wir vom Wachstumsfetisch wegkommen müssen, mit konkreten politischen Vorschlägen zur Gestaltung, wie wir produzieren und konsumieren. Wenn wir Marx ernst nehmen, dürfen wir das nicht auf das Nationale beschränken.

Wir LINKE müssen die realen Verhältnisse annehmen, wenn wir sie umkrempeln wollen. Darunter geht es nicht! Das erwarten zu Recht Bürgerinnen und Bürger von einer linken sozialistischen Partei. Die Europäische Union ist für unsere Politik Realität, sie ist aber eine von den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmte Realität. Das ist in einem Staatenverbund so, denn die Summe kann nicht mehr sein, als die Einzelmitglieder es zulassen. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Politik verändern, wenn die EU sich ändern soll. Deshalb brauchen wir eine starke Linke im Bundestag und im Europäischen Parlament. Wir brauchen mehr als eine Radikalisierung der Sprache, eine Radikalisierung unserer Politik.

Wir wollen alle gemeinsam solidarische, menschliche Gesellschaften auf diesem unseren Kontinent, in dieser EU. Das setzt die Veränderung vieler vertraglicher Grundlagen voraus. Aber auch im nächsten Parlament, bei allem Optimismus, wird die Linke nicht die Mehrheit haben. Daher, liebe Genossinnen und Genossen: strengen wir unseren Kopf gemeinsam mit den vielen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern sowie im permanenten Gespräch mit Bürgerinnen und Bürger an, wie wir konkret zu einem Europa der Menschen und Regionen kommen. Wir wollen eine EU, in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Das Primat der Politik ist hierfür zurückzugewinnen.

Das geht aber nur, wenn unsere Forderungen und Vorschläge konkret sind und wir uns als deutsche Linke nicht selbst genügen. Gemeinsam mit den anderen in der Europäischen Linkspartei und der GUE/NGL vertretenen Parteien müssen wir es tun. Und mit anderen Linken, die heute noch nicht dabei sind.

Liebe Genossinnen und Genossen,

seit 2009 vertrete ich die Ziele unserer Partei und die Belange unserer Wählerinnen und Wähler im Europäischen Parlament. Zu meinen Erfolgen gehören die Ablehnung von ACTA, die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative sowie der Startschuss zu einer kritischen Bewegung zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA - TTIP, zu CETA oder jüngst zum Wirtschafts- und Handelsabkommen mit Japan. Ich bin froh, dass wir in dieser Legislatur die Konfliktmineralienrichtlinie als Gesetz auf den Weg gebracht haben: Wenn wir unser Smartphone in die Hand nehmen oder den Fernseher anschalten, können wir zukünftig gewiss sein, dass alle Unternehmen gesetzlich verpflichtet sind, nachzuweisen, dass aus ihren Geschäften keine Warlords oder korrupten Regimes finanziert werden. Die Quellen blutiger Konflikte werden endlich ausgetrocknet werden.

Liebe Genossinnen und Genossen,

auch deshalb darf Fairer und Ethischer Handel nicht länger Verkaufsslogan sein, sondern muss Freihandel ersetzen. Ein “America first”, ein „Italien first“ oder ein „Österreich first“ stellen keine Abkehr vom neoliberalen Freihandel dar, sondern sind nur ein Rückfall in die Regellosigkeit und Willkür. Umwelt-und Sozialdumping ist nicht zu dulden, die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-2030-Agenda müssen wir zu zentralen Kriterien von EU-Politik machen.

Liebe Genossinnen und Genossen,

wir sind gefordert, eine wahrhafte Idee einer EU zu erarbeiten, in der die Interessen der Menschen und nicht jene der Wirtschaft und des Kapitals dominieren. Wie im Manifest von Ventotene!

Und deshalb: Mit Schwung und Optimismus sowie Kraft in einen erfolgreichen Wahlkampf!

Fragen an Helmut Scholz

Ein Mitglied und Kandidat für das Europäische Parlament antwortet.

Helmut Scholz (Foto: Uwe Völkner/ FOX)

Das Interview führte Frithjof Newiak.

Helmut, Du bist Mitglied des Europäischen Parlaments seit 2009, stellst Dich erneut zur Wiederwahl, wurdest gleich im ersten Wahlgang mit 58,2 % der Vertreter*innenstimmen gewählt und bist somit erneut aussichtsreicher Kandidat aus dem Land Brandenburg für das „so ferne Parlament“. Das Interview wird uns Deine bisherige Tätigkeit und Deine Ansprüche an europäische Politik sicher näher bringen und auch, was die Menschen „von Europa haben“.

EU contra Kommune? Die Europawahlen wurden mit den Kommunalwahlen terminlich verbunden. Ist das nicht ungeschickt, Wahlen für ein globales Gremium mit einem regionalen zusammenzulegen?

Nein, denn das neu gewählte Europäische Parlament (EP) wird mit seinen Gesetzen und Entscheidungen auch Brandenburg und seine Kommunen beeinflussen – das EP wirkt vor Ort! Daher begrüße ich den gemeinsamen Termin zur Wahl des EP mit der Kommunalwahl in Brandenburg. Beide Ebenen wirken zusammen und haben auch durchaus Parallelen: Ob nun im EP oder in einer Gemeindevertretung, jedes Thema sucht sich seine Mehrheiten neu. Nur sehr wenig ist wirklich schon im Vorfeld fest oder gar durch die Rollenverteilung „Regierung-Opposition“ vorbestimmt. Daher gehören Europa und die europäische Politik zum Handwerkszeug von kommunalpolitischer Aktivität und so ist auch die Verknüpfung beider Wahltermine miteinander sinnvoll. Themen, die für die Kommune auf der Agenda stehen, können so direkt in einen europäischen Kontext gesetzt werden. Ein gemeinsamer Fokus kann die verschiedenen Ebenen verknüpfen und die politische Debatte bereichern. Und die möglicherweise höhere Wahlbeteiligung sollte man bei kombinierten Wahlen ebenso nicht außer Acht lassen.

Zusätzlich ist es natürlich auch effizienter: Man spart Zeit, den zusätzlichen Einsatz von Wahlhelferinnen und Wahlhelfern und nicht zuletzt auch Geld, wenn man die Termine kombiniert.

Wenn die Tätigkeit der Kommunen so stark durch die EU beeinflusst wird, ist doch die Frage, welcher Handlungsspielraum da überhaupt noch besteht?

Da verhält es sich ähnlich wie mit der Beziehung des Bundestags (bzw. Landtags) zur Kommune. Das EP gibt den globalen Kontext vor, setzt die Richtlinie. Die konkrete Ausgestaltung, die Differenzierung im Kleinen, erfolgt aber vor Ort. Das EP will, kann und darf ja auch gar nicht in jedes Detail „Reinregieren“, das ist ein falsches Bild. Das EP gibt eine Art Richtschnur vor - einen Mindeststandard unter dem es dann in der EU bzw. den Mitgliedsstaaten nicht gehen darf. Was man dann vor Ort konkret damit macht und wie weit man geht (denn ein „Mehr“ geht immer) bleibt in regionaler bzw. kommunaler Hoheit. Das ist richtig und finde ich gut, denn auch für mich ist die Kommunalpolitik das Kronjuwel linker Politik.

Dass für gestaltende Kommunalpolitik auch finanzielle Mittel vorhanden sein müssen, versteht sich von selbst. Für die Finanzausstattung der Kommunen ist aber der nationale Gesetzgeber zuständig, nicht das EP. Insofern sind die Adressaten bei der Frage nach Handlungsspielräumen der Bund und das Land.

Die Handlungsfähigkeit der Kommunen ist sehr stark durch ihren meist schmalen Finanzrahmen bestimmt und dazu gibt es die Reglementierungen durch die EU. Schränkt das die Kommunen nicht zusätzlich ein?

Wie gerade schon gesagt: Die Grenzen setzt hier eher die Bundes- und Landespolitik, nicht das EP. DIE LINKE kritisiert den Bund zum Beispiel stark für seine Politik, die dafür sorgt, dass die Sozialausgaben immer weiter steigen - in diesem Jahr auf gute 60 Mrd. Euro, soweit ich weiß. Wenn gleichzeitig rund 80 Prozent dieser Kosten auch noch von den Landkreisen und kreisfreien Städten getragen werden müssen, läuft da schon was falsch, finde ich.

Wie ich das meine? Mit einem auskömmlichen bundesweiten Mindestlohn müssten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch zusätzlich zum Amt und aufstockende Leistungen beantragen. Hier muss man gegensteuern!

Das Land Brandenburg unter Rot-Rot hat hier im Rahmen seiner begrenzten finanziellen Möglichkeiten schon einiges zum Ausgleich für die Kommunen getan, finde ich. Der kommunale Finanzausgleich sorgt zum Beispiel dafür, dass reichere Kommunen in einen Topf einzahlen, aus dem dann ärmere Kommunen einen Ausgleich erhalten. Das ist Solidarität! Auch das Land selbst gibt an seine Kommunen mehr Geld als frühere Landesregierungen (unter anderen Parteikonstellationen) und baut trotzdem im Rahmen seiner Möglichkeiten die Schulden der Vorgängerregierungen ab! Der größte Brocken ist immer noch die Bundespolitik. Sie hat die größten Auswirkungen und hier muss der Wechsel her!

Welchen Nutzen haben die Kommunen konkret? Was wäre ohne EU nicht möglich gewesen? Welche Beispiele gibt es in Brandenburg?

Da kann ich eine fantastische Internetseite empfehlen: www.das-tut-die-eu-fuer-mich.eu. Hier findet sich sehr detailliert aufbereitet, was die EU in den letzten Jahren konkret bei uns vor Ort bewirkt und unterstützt hat. Und das ist eine Menge! Beispiel Teltow-Fläming, so ist auf dieser Internetseite zu lesen: "Die EU stellt dem Land Brandenburg im Förderzeitraum 2014-2020 insgesamt rund 362 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) zur Verfügung, um den Menschen zu helfen, die eine neue Arbeit suchen oder sich beruflich neu orientieren möchten. Im Landkreis Teltow-Fläming unterstützt der EU-geförderte Lotsendienst die Bürger dabei, Gründungsideen zu verwirklichen und begleitet sie auf dem Weg in die Selbstständigkeit.

In Teltow-Fläming wurden seit dem Jahr 2000 mehr als 200 Projekte mit rund 60 Millionen Euro aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Auch das Geoportal Teltow-Fläming, ein Online-Dienst des Landkreises, wurde mit Hilfe von EFRE-Mitteln ermöglicht. Im Geoportal können Geodaten, Dienste und Metadaten des Landkreises abgerufen werden.

Kleinere Ortschaften wie Altes Lager in der Gemeinde Niedergörsdorf können ebenfalls von EU-Fördermitteln profitieren. Konkret wurde hier der Umbau des ehemaligen Umspannwerkes zu einem Ausbildungsraum für die Jugendfeuerwehr mit EU-Geldern unterstützt. Gleichzeitig nutzt die Dorfgemeinschaft den Mehrzweckraum etwa für Wahlen, Bürgersprechstunden oder Vereinsaktivitäten."

Ich finde, das ist nicht wenig und muss noch viel stärker publik gemacht werden! Wir haben alle etwas von der EU!

Sind sich die Kommunalpolitiker*innen dieser Möglichkeiten bewusst oder erfordert es noch weiterer Aufklärung und wer kann die leisten?

Wir alle, jede und jeder kann und muss diese Arbeit leisten. Die Politikerinnen und Politiker, indem sie mit den Bürgerinnen und Bürgern das Gespräch suchen und Zusammenhänge erklären. Die Bürgerinnen und Bürger, indem sie sich für Politik interessieren und aktiv einbringen, ihre Stimme erheben und klare Forderungen an uns in der Politik stellen. Wir als LINKE wollen, dass Menschen sich wieder stärker einmischen, europäisch wie vor Ort, und Gesellschaft aktiv gestalten. Die Zeit bis zur Wahl am 26. Mai 2019 muss genutzt werden, um über die Arbeit des EP weiter aufzuklären und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, welche Wirkung die europäische Politik entfaltet. Ich versuche, so oft wie es mir möglich ist, in meinem Wahlkreisen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern unterwegs zu sein und mit den Leuten zu sprechen. Den Menschen muss gezeigt werden, dass es Gründe für ihre Beteiligung an der Wahl des EP gibt. Es bedeutet, sich selbst eine Stimme und Gehör in der Europäischen Union und dessen Parlament zu verschaffen, mitzugestalten an der europäischen Zukunft.

Mir ist klar, EU-Politik gehört weiterentwickelt und verbessert. Das erfordert aktive Beteiligung und Einmischung der Bürgerinnen und Bürger. Und so ist Wahlbeteiligung und Einmischung auch für alle Brandenburgerinnen und Brandenburger wichtig, denn das neu gewählte EP wird mit seinen Gesetzen und Entscheidungen auch den Alltag in Brandenburg beeinflussen – das EP wirkt vor Ort!

Mich stört aber insbesondere eine immer wieder zu hörende mangelnde Differenziertheit. So heißt es im Protest oft „Die da oben haben …“ oder „Die in Brüssel haben …“. So ist es ja nun nicht! Erst einmal sind es nicht immer nur „Die“, sondern ganz bestimmte politische Mehrheiten und Konstellationen. Es gibt immer eine andere Meinung und politische Parteien, die für diese stehen und um ihre alternative Position bei Wählerinnen und Wähler werben.

Dazu kommt, dass in Brüssel viel mehr Politik national gemacht wird, als alle denken. Die Regierungen aller Mitgliedsländer, so auch die deutsche Bundesregierung mit ihrer Großen Koalition, sitzen im EU-Ministerrat zusammen an einem Tisch. Entscheidungen werden hier in der Regel einstimmig getroffen und wirken EU-weit. Es ist also teilweise schon schizophren, wenn deutsche Regierungspolitik auf Europa schimpft. Als Sündenbock ist die europäische Ebene, die sich entfernter anfühlen kann, als die nationale, eben willkommen.

Hier sind Aufklärung und Redlichkeit gefordert: Von uns Politikerinnen und Politikern beim Erklären der Zusammenhänge und von den Bürgerinnen und Bürgern beim Interessieren für europäische Politik. Ein dickes Brett, ich weiß. Aber ich würde nicht noch einmal für das EP kandidieren, wenn ich nicht Optimist wäre.

In vielen Ländern ist eine Hinwendung zu nationalstaatlicher Politik und Abkehr von der EU zu beobachten. Am deutlichsten ist das am Brexit festzumachen. Ist die EU damit gescheitert?

Es stimmt leider, dass in vielen Ländern nationalistische Kräfte stärker geworden sind. Wir dürfen diese geschichtsvergessenen Parteien aber auch nicht stärker reden, als sie sind. Laut dem Statistikamt Eurobarometer halten acht von zehn Deutschen die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache. Europaweit teilen 63 Prozent der EU-Bevölkerung diese Ansicht. Das ist der beste je gemessene Wert.

Vielleicht führt gerade der Brexit vor Augen, wie absurd die Forderung nach Verlassen oder Abschaffen der Europäischen Union ist. Es sind egoistische, extrem wertkonservative Kräfte, die mit finanzieller Unterstützung von sehr reichen alten Männern die britische Debatte zum Brexit geprägt haben. Es handelt sich nicht um eine rationale Debatte über die Europäische Union, sondern das Schwelgen in Erinnerungen an das Empire und die Wiederwahl im eigenen Wahlkreis.

Ein weiterer markanter Anteil der Stimmen für einen Austritt Großbritanniens aus der EU basierte jedoch auf sozialem Protest. Man muss zwar einräumen, dass die EU eigentlich nicht schuld ist an der Misere des britischen Gesundheitssystems, an überteuerten Mieten, an der schlechten Situation von Alleinerziehenden. Das sind bislang alles nationale oder lokale Entscheidungen.

Dennoch bringt der Protest zum Ausdruck, was sich die Menschen eigentlich von ihrer Europäischen Union erhoffen würden. Wir müssen ihre Forderungen aufgreifen und die Prioritäten der gemeinschaftlichen Politik verändern. Der Mehrwert von Europa muss deutlich erlebbarer sein. Dafür braucht es vor allem eine sozialpolitische Initiative. Wir brauchen eine deutliche Steigerung der Einkommen in den ärmeren Mitgliedstaaten unserer Union. Im Lissabon-Vertrag haben Briten, Christdemokraten und Liberale leider der Kommission schriftlich untersagt, einen Vorschlag für einen europäischen Mindestlohn zu unterbreiten. Aber wo ein Wille ist, können die Regierungen der Mitgliedstaaten Vereinbarungen treffen. Bei Rüstungsunion und Bankenrettung konnten sie das ja auch.

Welche Ursachen siehst Du für die Hinwendung zu nationalstaatlicher Politik?

Wir beobachten hier drei Phasen. Es gibt eine gutbürgerliche Mittelschicht, die keine Veränderungen mag. Diese Leute sind dagegen, dass in ihrer Nachbarschaft eine Flüchtlingsunterkunft oder ein Frauenhaus eröffnet werden, weil es ja den Wert ihres Hauses mindern könnte. Sie mögen auch keine Veränderung durch Mobilität und Migration. Sie mögen keine Menschen, die anders aussehen, anders leben, oder anders lieben. Die Herren Lucke und Henkel haben diesem wertkonservativen Bürgertum ein Ventil angeboten.

Das Reden über die Mentalitätsunterschiede zu den Mittelmeerstaaten Europas, mit denen man deshalb nicht gemeinsam im Euro sein könne, machte auch Stimmen salonfähig, die in ihrer Feindseligkeit und Angst vor allem Fremden noch viel weiter gehen und die in der deutschen Fußballnationalmannschaft wieder nur weiße Jungs sehen wollten. Dann kam Trump und attackierte ganz direkt jede Form von politischer Korrektheit und Gleichberechtigung in der Sprache. Er löste damit international einen Überbietungswettbewerb der schlimmsten verbalen Attacken aus. Die politische Sprache der aufstrebenden Rechten in Italien, Spanien, den Niederlanden, Schweden, Ungarn, Deutschland, Griechenland, Brasilien und auch Israel soll einschüchtern.

Deshalb gilt es für uns nun erst recht, dem aufrecht entgegenzutreten. In dieser Europawahl ist die Teilnahme an der Wahl auch ein Stück anti-faschistischer Kampf. Und es ist auch die Herausforderung, einer von jenen Kräften beabsichtigten und schon in Angriff genommenen geistig-konservativen Wende weg von vielen erreichten zutiefst demokratischen Grundwerten entgegenzutreten.

Es ist also nicht nur ein Kommunikationsproblem. Ist es aber ein Problem falscher Politik oder liegt der Fehler bereits in der Gründung der EU?

Die Ausrede mit dem Kommunikationsproblem lasse ich nicht zu. Es gab politische Entscheidungen, die waren schlicht falsch. Zum Beispiel die grausamen Sparauflagen für Griechenland und Portugal. Der damalige Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) hat auf europäischer Ebene eine neoliberale Politik durchgesetzt, mit der Regierungen gezwungen wurden, ihre öffentlichen Dienstleistungen zu privatisieren. Das war eine konkrete schlechte Entscheidung von konkreten politischen Handelnden und Parteien. Wir sollten das betonen und ihnen in unserer Kritik nicht die abstrakte EU als Tarnkappe anbieten.

Was es aber aus meiner Sicht gibt, ist ein Problem im Schulunterricht. Die Bürgerinnen und Bürger sollten schon in der Schule erklärt bekommen, wie eigentlich ein Gesetz gemacht wird und an welcher Stelle die Entscheidungsprozesse beeinflusst werden können. Das ist ein wichtiger Grundaspekt jeder Demokratie. Für die Entscheidungsebene Deutschland wird das durch Schulen und Medien noch einigermaßen geleistet, wenn auch längst nicht in ausreichendem Maße. Deshalb sollte auch die Landesregierung in Brandenburg die Herausforderung annehmen und Chance ergreifen, ein Mehr an entsprechenden Lehrmaterialien zur Verfügung zu stellen und Lehrpläne anzupassen. Für die europäische Ebene gibt es da noch sehr viel zu verbessern.

Es wird jetzt häufiger von einem Sozialpakt gesprochen. Ist das eine Reaktion auf das Auseinanderdriften in der EU?

Ich würde mir wünschen, dass über einen Sozialpakt nicht nur in Wahlkampfzeiten gesprochen wird. In unserer Europäischen Union wurden vor kurzer Zeit in Göteborg auf einem Sondergipfel die Säulen einer sozialen Union beschrieben. Das war eine Reaktion auf die Stimmung vor und nach der Brexit-Abstimmung. Das Ergebnis ist leider ein ausgesprochen zahnloser Kompromiss. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten, insbesondere aber die Parteien mitte-rechts des politischen Spektrums, aber auch mein SPD-Namensvetter im Finanzministerium, müssen ihre Blockade von echten sozialen Innovationen und einem europäischen Lastenausgleich nun endlich einmal aufgeben.

Nun gibt es Meinungen, dass die EU nicht reformierbar sei. Du kandidierst wieder für das EP. Welche Möglichkeiten hast Du bzw. Deine Fraktion, um die EU sozialer, transparenter und demokratischer zu gestalten?

Politik ist veränderbar - in der Europäischen Union und in Deutschland, wie in allen anderen 27 EU-Mitgliedstaaten. Wir machen das ständig. Zum Beispiel spielen Umweltschutz und Klimawandel eine viel größere Rolle als früher. das zwingt zum Umdenken - in allen Bereichen des täglichen Lebens und entsprechend von der Politik zu treffender Entscheidungen. Aber es ist noch längst nicht genug. Die patronalisierende Art, mit der z. B. Kommissionspräsident Juncker von den luxemburgischen Christdemokraten die Klimaschutzkämpferin Greta Thunberg behandelte, sprach Bände. Aber ebenso auch von deutschen Politiker*innen z.B. der FDP oder CDU/CSU. Offensichtlich wird dieser Aufschrei der Jugend einfach nicht verstanden.

Das „Business as usual“ - also ein weitermachen mit Marktlogik und alleiniger Ausrichtung des Setzens von Rahmenbedingungen für das Funktionieren des EU-Binnenmarktes kann nicht mehr funktionieren, darf so nicht fortgesetzt werden. Wir brauchen im nächsten Europäischen Parlament starke Abgeordnete, die um die Bedeutung der globalen Aufgaben wissen.

Ich setze mich intensiv für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen der Agenda 2030 ein. Dazu gehört ganz vorne auch in Europa die Überwindung von Armut. Das soll jedoch nicht auf Kosten von anderen geschehen, sondern in Partnerschaft mit den Gesellschaften der Welt und im Interesse der Erhaltung unserer Umwelt für uns, und alle nachfolgenden Generationen unserer Erde.

Ja, die #Fridays4Future-Bewegten haben recht - und was so viele Wissenschaftler*innen und einzelne Bewegungen, gesellschaftlichen Kräfte und auch politischen Akteure seit vielen Jahren ja auch betonen, aber eben nicht zum Einlenken von Politik geführt hat: Es gibt keinen Planeten B. Genau darin unterscheiden wir uns vom Egoismus und vom Nationalismus von Trump und deutschen und europäischen Rechten.

Wir wollen sozialen Fortschritt. Wir wollen, das fairer und ethischer Handel die Normalität wird. Wir wollen Frieden statt Konfrontation mit Russland und China, mit allen Ländern, weltweit. Diese Art von Politik muss Kriterium für jegliche Gesetzgebung in der EU werden, muss auch entscheidendes Maß für die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission werden.

Einer Deiner Tätigkeitsschwerpunkte sind die Freihandelsabkommen. Das TTIP hat ja eine Berühmtheit durch die Massenproteste erlangt. Was sind die Kritikpunkte, weshalb sich Deine Fraktion gegen den freien Handel ausspricht?

Wir sind nicht gegen Handel. Der Handel war immer ein wichtiges Mittel des Austausches zwischen Menschen, auch zwischen verschiedenen Kulturen und Regionen. Aber der Handel muss fair sein. Meine Fraktion toleriert keine Handelspolitik, die Entwicklungsländer übervorteilt, um großen europäischen Firmen Rohstoffzufuhr und Absatzmärkte zu sichern. Meine Fraktion stellt sich aber auch schützend vor die europäische Bevölkerung, wenn Abkommen wie TTIP unsere Landwirtschaft und unser Niveau von Verbraucherschutz gefährden. Wir setzen uns für eine neue Form von Verträgen über Handel und Kooperation ein, die beiden Partnern sozialen und ökologischen Fortschritt ermöglicht.

TTIP wurde gestoppt, weil dort die Schiedsgerichte vereinbart werden sollten. Es könnten Firmen gegen Staaten wegen entgangener Gewinne klagen. Woher stammt so eine Idee? Wie würde sie sich praktisch auswirken?

Die Idee wurde in den 1950er Jahren in Deutschland geboren und sollte deutsche Firmen bei Investitionen in Entwicklungsländern absichern. Man machte sich Sorgen über Verstaatlichungen, sollten diese Länder einen sozialistischen Kurs einschlagen. In den letzten beiden Jahrzehnten haben große Anwaltsfirmen aus dieser vertraglichen Konstruktion jedoch eine milliardenschwere Klageindustrie entwickelt. Einige Staaten mussten absurde Summen zahlen. Das lässt Regierungen davor zurückschrecken, eigentlich benötigte Maßnahmen zum Schutz ihrer Bevölkerung zu treffen, um nicht Schadensersatz für „entgangene Gewinnerwartungen“ in empfindlicher Höhe zahlen zu müssen. Auch die Bundesregierung wird von Konzernen wegen des Atomausstiegs vor dem ISDS-Tribunal aus dem Energiecharta-Abkommen verklagt, ebenso Hamburg vom Konzern Vattenfall wegen eines Politikwechsels, nach dem ein Kohlekraftwerk politisch nicht mehr gewollt war.

Inzwischen wurden Verträge mit Japan und Singapur geschlossen. In denen kommen keine Schiedsgerichte mehr vor. Also haben die Proteste gewirkt?

Leider nein. Der Investorenschutz wurde lediglich ausgegliedert in separate Abkommen. Der Europäische Gerichtshof hatte befunden, dass über Handelsthemen allein auf europäischer Ebene entschieden werden kann, während bei Investitionsthemen auch in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Deshalb schlug die Kommission den Mitgliedstaaten eine Trennung der Verträge vor, um die Dauer der Ratifizierung zu verkürzen und das Handelsabkommen weniger angreifbar zu machen. Der Rat hielt das für eine gute Idee. Ich befürchte jedoch eine weitere Entfremdung der Bevölkerung von der Politik. Einer meiner Vorschläge zur Lösung lautet, den Parlamenten der Mitgliedstaaten mehr Rechte bei der Festlegung der Position ihrer Regierungen zu geben. Zum Beispiel sollte der Bundestag der deutschen Regierung ein Mandat erteilen, bevor diese im Rat in Brüssel einem Handelsabkommen zustimmen darf. Das Investorenschutzabkommen mit Singapur ist durch das Europäische Parlament bereits ratifiziert, muss aber noch die Mitgliedstaaten durchlaufen. Mit Japan ist im Dezember ein sehr umfassendes Handelsabkommen geschlossen worden, die Verhandlung über ein Investorenschutzabkommen sind separat und noch nicht abgeschlossen. Aber das Abkommen mit Vietnam steht bereits in der Warteschlange.

Es wird darüber berichtet, wie durch die Verträge Wachstum und Arbeitsplätze gesichert werden. Sind da die Schiedsgerichte vielleicht das kleinere Übel?

Als erstes müssen wir die Rechtsgleichheit schützen. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Investoren aus anderen Ländern sollten kein Klagerecht vor einem Sonder-Tribunal erhalten. Das ordentliche Gerichtssystem in Deutschland und der EU ist völlig ausreichend und deutlich kompetenter in der Güterabwägung. Weder Bürgerinnen und Bürger noch inländische Unternehmen können vor diesen Tribunalen klagen. Auch bei etwaigen Verletzungen von Pflichten durch die Investoren ist vor den Tribunalen keine Klage möglich. Das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht können wir nicht für irgendein Handelsabkommen einfach aufgeben. Für unseren internationalen Handel brauchen wir die Tribunale nicht, egal ob sie nun ISDS oder ICS abgekürzt werden.

Bei TTIP musste die EU-Kommission zudem einräumen, dass der Beitrag zum Wirtschaftswachstum unter 0,3 Prozent liegen würde und auch das nur über viele Jahre verteilt. Ein kalter Winter hat mehr messbare Auswirkung auf die Wirtschaftszahlen. So gab die Kommission am Ende auch offen zu, dass es bei TTIP mehr um das Abschleifen von Regulierung ging, als um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Tatsächlich hätten in vielen Branchen Betriebe schließen müssen. In anderen Bereichen wären zwar auch Arbeitsplätze entstanden, aber nicht für dieselben Personen, die gerade ihren Job verloren haben. Die arbeitslos gewordene Arbeiterin aus der Brotfabrik bei Wien wird nicht im nächsten Monat als Computerspezialistin in Estland eingestellt werden.

Andere Stimmen behaupten, dass durch die Schiedsgerichte die Klimaziele des Pariser Abkommens unterlaufen werden könnten? Wird dadurch nicht jegliches staatliche Handeln ad absurdum geführt?

Wenn sich Regierungen durch die Androhung von Klagen einschüchtern lassen und notwendige Gesetze nicht erlassen, um die Klimakatastrophe abzuwenden, haben wir ein riesiges Problem. Auch ökonomisch wäre das Wahnsinn, denn die Kosten, die durch das Ansteigen des Meeresspiegels und Überschwemmungen und immer stärkere Stürme verursacht werden, sind immens.

Ich unterstütze deshalb den Vorschlag von Frankreich, Spanien und Luxemburg, künftig in den Verträgen der EU mit Drittstaaten festzuschreiben, dass sich die Partner zur Bekämpfung des Klimawandels verpflichten. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich anzuschließen. Es gibt heute bereits zwei feste Klauseln, eine zur Einhaltung der Menschenrechte und eine zum Verbot der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Ich bin für Klimaschutz als dritte Verpflichtung. Bei Verstoß kann dann das Abkommen gekündigt werden. Die Schiedsgerichte wären in diesem Aspekt gebändigt.

Die Verträge sind unterzeichnet, weitere werden verhandelt. Wie soll sich eine Ausweitung des „Freihandels“ verhindern lassen?

Es wird nicht leicht sein. Nicht nur unsere Europäische Union verhandelt Abkommen, auch andere Akteure wie China und die USA versuchen durch Freihandelsabkommen ihre technologischen und wettbewerbsrelevanten Standards durchzusetzen. Auch die südamerikanischen Staaten schließen eilig Abkommen ab, um nicht gegenüber der Konkurrenz ins Hintertreffen zu geraten. Demnächst wird wahrscheinlich sogar Bolivien dem Abkommen der EU mit Kolumbien, Peru und Ecuador beitreten. Die Staaten der Afrikanischen Union haben sich formal geeinigt, das kontinentale „Afrikanische Freihandelsgebiet“ zu schaffen und haben bereits fast die notwendige Anzahl von Ratifizierungen erreicht. Es scheint, als würden alle von den gleichen Beratungsunternehmen in Richtung Freihandel gedrängt.

Ich erwarte, dass wir in den nächsten Jahren immer stabilere Daten über die Auswirkungen der Freihandelsabkommen bekommen werden. Ich kann heute bereits sehen, dass jedes von der EU-Kommission ausgehandelte Abkommen dazu geführt hat, dass sich die Handelsbilanz zugunsten unserer EU verbessert hat. Partnerländer haben das Nachsehen, kommen aus der Situation aber schlecht heraus. Gerade die Landbevölkerung leidet unter Konkurrenzdruck und Umweltschäden. Die Menschen werden ein Umdenken einfordern.

Es ist viel von „Alternativlosigkeit“ politischer Entscheidungen zu lesen. Nun bot Deine Fraktion ein Forum, um über Alternativen zu den Freihandelsabkommen zu diskutieren. Was wären die grundsätzlichen Unterschiede zu den ausgehandelten Abkommen?

Fairer Handel muss die Normalität werden. Handelspolitik muss eingebunden werden in unsere allgemeinen gesellschaftlichen Aufgabenstellungen. Dazu zähle ich Frieden, sozialen Fortschritt, den Erhalt der Umwelt und der Artenvielfalt, das Aufhalten des Klimawandels. Entlang dieser Themenstellung haben wir in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Konferenzen im Europäischen Parlament organisiert. Zuletzt im Februar haben wir mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen ein Forum gegeben, um die von ihnen formulierten Ansprüche an eine zukunftsfähige Handelspolitik vorzustellen. Im Kern steht ein radikales Umdenken beim Maßstab für Erfolg. Wir müssen weg vom Wachstumsdenken. Stattdessen brauchen wir für Politiken eine soziale Fortschrittsklausel. Wir müssen lernen, den Erfolg eines Handelsabkommens daran zu bemessen, was es zur Bekämpfung von Armut, zu sozialem Fortschritt, zu Umwelt- und Klimaschutz beiträgt.

Wir brauchen Abkommen über Handel und Kooperation, mit denen wir uns gegenseitig beim Erreichen der Nachhaltigkeitsziele unterstützen. In der Überwindung von Armut liegt der Schlüssel zur Vermeidung von Konflikten und zum Aufbau einer nachhaltigen Ökonomie. Abkommen, die lediglich der Ausbeutung der einen durch die anderen erleichtern, gehören konsequent abgeschafft und durch die neue Generation von Kooperationsabkommen ersetzt.

Wem würden solche Verträge nutzen? Was wäre davon für die Bürger*innen und in den Kommunen spürbar?

Nehmen wir das Beispiel der Stadt Gent in Belgien. Gent ist 2018 zur ersten Europäischen Stadt des Fairen und Ethischen Handels gekürt worden. Das ist ein neuer Preis der EU-Kommission, für dessen Einführung ich mich in den letzten Jahren erfolgreich einsetzen konnte. Gent hat an seine sehr alte Tradition als Zentrum des Tuchhandels angeknüpft und sich dabei an neuen Werten orientiert. Heute blühen in der Stadt wieder internationale Designtreffen, basierend auf fair erzeugten und gehandelten Produkten. Die Stadt ist voller Cafés und Restaurants, die auf regionale Agrarprodukte gemischt mit fairen Produkten aus Übersee setzen. Die Bürger*innen machen mit und genießen die veränderte Atmosphäre in der Stadt, das Image blüht, die Stadt zieht immer mehr Tourismus an. In unseren Städten und Kommunen können wir unsere Ideen für eine nachhaltige Zukunft konkret umsetzen und erlebbar machen. 2020 wird es wieder eine Preisträgerin geben und ich würde mich sehr freuen, wenn es dann eine Stadt in Ostdeutschland würde.

Mit Freiwilligkeit allein wurden bisher keine vernünftigen Absichten umgesetzt. Deine Fraktion im EP wird es allein auch nicht umsetzen können. Wen könnte man für die Durchsetzung solcher Verträge gewinnen oder mobilisieren?

Wir haben im Europäischen Parlament in der letzten Legislaturperiode eine Sternstunde erlebt, als wir gemeinsam mit anderen Abgeordneten und den Kräften der Zivilgesellschaft - von „amnesty international“ bis hin zu einem Bündnis katholischer Bischöfe - gegen den Handel mit Rohstoffen aus Kriegsgebieten vorgegangen sind. In Zentralafrika, aber auch in anderen Krisenregionen geht es bei bewaffneten Konflikten oft um die Kontrolle über Minen. Wir konnten in der Europäischen Union nun gesetzlich die Pflicht für Unternehmen verankern, dass sie ihre Lieferkette kontrollieren und nachweisen müssen, dass sie ihr Coltan, Gold, Wolfram oder Zinn nicht von Warlords gekauft haben. Wenn DIE LINKE nach den Wahlen gestärkt im Europäischen Parlament sein wird, werden wir daran arbeiten, diese Pflicht auf weitere Rohstoffe auszudehnen.

Ich arbeite mit bestimmten Abgeordneten aus anderen Fraktionen auch in der ständigen Arbeitsgruppe Fairer Handel des EP, sowie in der Gruppe für verantwortliche Unternehmensführung. Der Zeitgeist muss sich ändern und darauf wirken wir gemeinsam hin. Im Europäischen Parlament sind je nach Thema wechselnde Mehrheiten möglich und erreichbar.

Du willst Dich für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bis 2030 einsetzen. Wie passt das mit den Freihandels- bzw. alternativen Handelsverträgen zusammen?

Ich möchte die Nachhaltigkeitsziele, die alle Länder gemeinsam in den Vereinten Nationen vereinbart haben, zum zentralen Gradmesser für Erfolg unserer Politiken und Entscheidungen machen. Entscheidungen in Politik und Wirtschaft werden heute nach den falschen Maßstäben gefällt. Ein Anstieg des Bruttosozialproduktes oder ein Anstieg allein des Umsatzes bedeutet noch kein qualitatives und nachhaltiges Wachstum. Ich bin sogar dafür, Wachstum als Kategorie für Erfolg völlig zu streichen. Die Zukunft liegt im sozialen und ökologischen Umbau unserer Gesellschaften. Erfolg bemessen wir am sinnvollsten durch den Beitrag unserer Entscheidungen zum Erreichen der UNO-Nachhaltigkeitsziele. Konkretes Beispiel: in Bangladesch wurden inzwischen für vier Millionen Haushalte dezentrale Solarenergiemodule errichtet. Das hat 115.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Haushalte haben 350 Millionen Euro Ausgaben für fossile Brennstoffe vermeiden können. Das Geld kann nun in Infrastruktur und Bildung investiert werden. So geht Nachhaltigkeit. Die UNO schätzt, dass wir durch den Umbau unserer Wirtschaft zu einer nachhaltigen Ökonomie weltweit 65 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen können. Wir können 700.000 Tode in Folge von Luftverschmutzung vermeiden. Eine Wasserversorgung, die den Klimawandel überdauert, würde 360.000 Säuglingen und Kleinkindern das Überleben ermöglichen. Daran sollen wir die Qualität unserer Entscheidungen messen.

Die EU ist als DAS europäische Friedensprojekt gestartet. Von wem wird die EU bedroht, dass so massiv aufgerüstet werden soll?

Richtig, mit dem Manifest von Ventotene hatten der Kommunist Spinelli und Mitstreiter 1943 in faschistischer Gefangenschaft Wege aufgezeigt, wie friedliches und freundschaftliches Zusammenleben der Völker auf dem europäischen Kontinent nach dem furchtbarsten Krieg wieder möglich und gestaltbar sein könnte - und die europäische Integration hat seit vielen Jahrzehnten den Frieden unter den Mitgliedsstaaten der EU möglich gemacht. In all der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Zeit nach 1945, der Blockkonfrontation, des Kalten Krieges.

Offen militärisch bedroht wird die EU heute nicht, doch vor allem konservative und vor allem rechtspopulistische Kräfte schüren Ängste angesichts unbewältigter globaler Herausforderungen, die auch durch die Wirtschaftspolitik der entwickelten Industriestaaten mit hervorgebracht werden und Auswirkungen auf Gesellschaften an allen Orten unseres Planeten haben. So wird eine „Gefährdung“ der Gesellschaften in der EU immer wieder mit dem Schicksal zur Flucht gezwungener Menschen verknüpft, wird auf die bis heute nicht gefundene gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik als Alternative die Abschottung der Außengrenzen gefordert. Mehr noch, es wird die bis heute in ihrer Gesamtheit nicht bewältigte, grundsätzliche Neuformierung von EU-Politik nach der Finanzkrise von 2009/2010 nun unter dem Ansturm populistischer, die EU negierender rechtspopulistischer und -extremer Parteien mit Blick auf das drohende Auseinanderdriften der EU-Staaten auf den Ausbau der Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen einer Verteidigungsunion orientiert. Verstärkt auch im Vorfeld des bzw. in Reaktion auf den Brexit und die „America first“-Politik des US-amerikanischen Präsidenten. Sozusagen als zusammenhaltende, und durchaus sehr verschiedene einzelne nationale Interessen in vielen anderen Bereichen ignorierende Klammer der EU. Sogenannte „gemeinsame“ Feindbilder bzw. die Verteidigung gegen selbige wurden schon immer als einende Strategie benutzt.

An Rüstung wird aber immer auch gut verdient, es ist eine wirtschaftliche Größe und die Produktion militärischer und militärisch nutzbarer (Dual use) Güter, zudem mit staatlich abgesichertem Absatz, ist fester Bestandteil marktwirtschaftlicher Realität in allen Gesellschaften.

Wenn keine unmittelbare Bedrohung besteht, warum dann die Aufrüstung bis hin zur nuklearen Bewaffnung?

Wie schon gesagt, das militärische hat einigenden Charakter und damit lässt sich viel Geld verdienen.

Die NATO, Trump und die Verpflichtung zur zweiprozentigen BIP-Investition der NATO-Mitglieder in die Rüstung sind ein weiterer Punkt. Weitere Milliarden an Euro sollen nach dem Willen der Bundesregierung in den Verteidigungshaushalt fließen, um diese absurde Vorgabe zu erreichen. Ein Irrsinn, wenn man bedenkt, wo diese Summen so viel sinnvoller investiert wären. Von Friedensdividende ist schon längst keine Rede mehr, auch nicht davon, Investitionen dieser auf Rüstung ausgerichteten Politik anders einzusetzen und in Konversionsprojekte und die Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu lenken. Denn diese brauchen ebenfalls erhebliche fingierte und materielle Mittel und derart langfristige Investitionen - aber eben als Projekte und konkreten Weg hin zu Abrüstung und dauerhafter sicherheitspolitischer Stabilität. Ganz zu schweigen davon, dass die EU-Verträge Rüstungsausgaben nicht erlauben. Und die Gelder sind auch im sozialen Bereich oder im Struktur- und Regionalpolitischen Gebiet viel besser aufgehoben, wird doch damit Vertrauen und so Stabilität gesichert, innerhalb der EU als auch in ihren Außenbeziehungen.

Entwickelt sich damit die EU zu einem Militärbündnis neben der NATO?

Ein Großteil der EU-Mitglieder sind bereits NATO-Mitglieder. Besonders wir LINKE sind gegen eine EU-Armee. Ich möchte klar sagen, dass eine Erkenntnis und Lehre aus dem II. Weltkrieg war, dass in Deutschland nur das Parlament über den Auslandseinsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten entscheiden darf. Das muss so beibehalten werden, Entscheidungsverlagerungen auf die europäische Ebene würden diesen Parlamentsvorbehalt sicher aushebeln. Die deutsche Regierung muss schon weiterhin vor dem Bundestag und damit der deutschen Öffentlichkeit erklären sollen, warum sie deutsche Soldatinnen und Soldaten ins Ausland entsenden wollen. So müssen sich die politischen Kräfte und Mehrheiten im Bundestag bekennen, ihre außen- und sicherheitspolitische Begründung für ihre Strategie und Politik im Interesse der Menschen hierzulande und in den ggf. betroffenen Konfliktgebieten liefern und Transparenz ermöglichen. Das gilt dann natürlich auch bezogen auf die EU-Entscheidungen der Bundesregierung im EU-Rat.

Was hältst Du in diesem Zusammenhang von einer europäischen Armee?

Wenig. Ich denke nicht, dass die versprochenen „Einsparungen“ an militärischen Mitteln auf der jeweiligen nationalen Ebenen von gegenwärtig ca. 20 Mrd. Euro real erfolgen. Vielmehr wird es bei der Doppelung bleiben, denn eine Auflösung der NATO bzw. der Austritt aller EU-Mitgliedstaaten aus diesem überlebten militärischen Bündnis wird ja nicht thematisiert. Also alles eine Mogelpackung. Für mich ist der Charakter unserer Armee sowieso zu hinterfragen.

Zudem: der Charakter heutiger militärischer Strukturen weltweit ist zutiefst fragwürdig. Wir brauchen - gerade mit der Erfahrung von Afghanistan bis hin zu Libyen - doch keine militärischen Strukturen zur Absicherung von Regime changes oder anderen Eingriffsoptionen zur Einbindung unterschiedlicher Gesellschaften in jeweils eigene Interessen- und Wirtschaftsmächtigkeit. Auch hier gilt: Die Bundeswehr hat einen Verteidigungsauftrag, sie hat defensiv zu agieren und deutsche Soldatinnen und Soldaten haben für mich bewaffnet im Ausland nichts zu suchen.

Wie müsste das Friedensprojekt EU aussehen?

Dazu stellen wir fünf klare Forderungen: Waffenexporte stoppen; Abrüsten statt aufrüsten; ein friedliches Europa mit einer klar auf Frieden ausgerichteten Agenda; Zivile Konfliktbearbeitung stärken; in die Zukunft investieren statt in den Krieg!

Ich will eine auf die Erfüllung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 ausgerichtete konkrete Außenwirtschafts-, Umwelt- und Entwicklungspolitik. Wir müssen unsere Wirtschaftspolitik neu strukturieren - und damit auch die gesamte Art, wie wir produzieren und konsumieren, umstellen. Allein im Bereich des internationalen Handels gilt es zum Beispiel fairen und ethischen Handel an die Stelle des Freihandels zu stellen. Nur so die Menschen in unseren Partnerländern überhaupt eine Chance, eine eigene aufholende und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu organisieren. Das wäre schon ein wichtiger Beitrag für die Vorbeugung von Konflikten. Das klingt kompliziert, ist aber sicher viel Frieden stiftender als das Festhalten an Rüstungsproduktion, Waffenexporten in Konfliktgebiete und militärischer Logik als Ersatz für partnerschaftliche Dialogpolitik. Hier sehe ich die Hauptverantwortung, Möglichkeiten und Tagesaufgabe und zugleich die Stärken einer ihren Namen als Friedensnobelpreisträger zu Recht tragenden EU.

Deine Fraktion hat eine intensive Arbeit geleistet. Lohnt sich das starke Engagement oder sollten die Kräfte nicht besser auf Themen vor Ort gelenkt werden?

Die Fragestellung verkennt die Komplexität und Vielschichtigkeit von Politikentwicklung und Entscheidung in der EU - denn Arbeit im Europäischen Parlament (EP) und vor Ort sind kein Widerspruch oder jeweils auszuwählende Schwerpunkte, sondern bedingen einander. Engagement in Brüssel und Straßburg ist auch Engagement für Themen vor Ort. Ich habe in den bisherigen Antworten versucht darzustellen, dass alles, was auf EU-Ebene beschlossen und bestimmt wird, auch Wirkung bei uns vor Ort in den Kommunen entfaltet. Und umgekehrt. Gerade in Bezug auf die einzige direkt gewählte EU-Institution, die ja darauf angewiesen ist, Meinungen von Bürger*innen und kommunalen wie regionalen Gebietskörperschaften aufgreifen zu können, wenn es um gesellschaftliche Veränderung im Interesse von allen Bürger*innen geht.

Und wir haben als Linksfraktion im EP viele Anhörungen, thematische Konferenzen durchgeführt, also auch die Themen von vor Ort direkt ins EP und in den europäischen Diskurs geholt. Ich erinnere hier an unsere regelmäßigen Beratungen mit dem europäischen linken kommunalpolitischen Netzwerk REALPE, die Gewerkschaftspolitischen Verständigungen TUNE (European Trade Union Network), oder auch den sehr umfangreichen politischen wie wirtschaftlichen Denkansatz einer Sozialen und Solidarischen Wirtschaft - in Praxis umgesetzt in verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten und von unserer Fraktion als einen der Schwerpunkte alternativer Wirtschaftspolitik vorangetrieben. Hier gilt es übrigens nach den Europawahlen am 26. Mai und der Konstituierung des neuen Parlaments am 1./2. Juli verstärkt anzuknüpfen.

Oder vielleicht auch dargestellt am eigenen Wirken: Beispiel Plastikmüll. Dieser verschmutzt immer mehr die Strände, Mikroplastik ist verstärkt im Wasser und letztlich sogar im Nahrungsmittelkreislauf zu finden. Ein wichtiger, wenn auch nur erster Schritt seitens der EU darauf war, gesetzgeberisch bestimmte Arten von Einwegplastik zu verbieten. Und diese Orientierung in Richtung Stärkung und strukturpolitischer Ausrichtung auf regionale Kreislaufwirtschaft, Ressourcenschonung und -Wiedergewinnung im stofflichen Wertschöpfungsprozess gilt es fortzusetzen. Übrigens auch im Interesse der kleinen und mittelständischen Betriebe, von Ausbildung und Arbeitsplatzschaffung bzw. -erhaltung in den neuen Bundesländern, aber auch EU-weit.

Es wurde festgestellt, dass die EU ein „bürokratisches undemokratisches Monster“ sei. Womit kannst und willst Du ihm zu Leibe rücken?

Ich nenne die EU weder undemokratisch noch Monster. Es gibt Demokratiedefizite, manches ist verbesserungswürdig. Aber auch die Demokratie in Deutschland hat doch noch Potenzial, denken wir nur einmal an Volksabstimmungen auf Bundesebene. Und das Wort „Monster“ als Beschreibung für politische Institutionen werde und kann ich nicht nutzen, es ist falsch. Weil es scheinbar Ohnmacht gegenüber politischen Entscheidungsstrukturen beschreibt, als ob etwas über uns kommt oder uns bedroht. Aber das Gegenteil ist doch der Fall. Wenn wir Demokratie wollen, sie stärken, ja, auch sie verteidigen müssen. Gerade hinsichtlich von uns allen angehenden Entscheidungsprozessen des Europäischen Parlaments, der EU-Kommission aber v.a. auch des EU-Rates.

Sicher, die EU regelt viel und auch manches in extremer Feingliedrigkeit. Aber ich erinnere noch einmal daran: Beschlossen wird auf europäischer Ebene in der Regel mit Einstimmigkeit im Rat, sprich unter den Mitgliedsstaaten. Es wollen sich also 28 bzw. nach dem Brexit 27 nationale Regierungen in den Beschlüssen wiederfinden und ihre ganz speziellen Anliegen geregelt wissen. Nationale Einzelinteressen werden also auf europäischer Ebene eingepflegt und zur Regelung für alle erhoben. Da geht es oft in die Tiefe mit vielen Details.

Und es gilt eben auch, konsequent das Subsidiaritätsprinzip bei Beschlussfassung und Entscheidungsumsetzung noch viel stärker zu berücksichtigen. Das aber erfordert auch wachsende Einmischung der Bürger*innen in EU-Politik. Was soll gemeinschaftlich, was gemeinsam entschieden werden, was kann und muss auf der jeweils unmittelbarsten Ebene von Bürgerbetroffenheit verbleiben.

Demokratie ist zeitlich aufwendig, erfordert Engagement, Fachwissen und Transparenz, denn am Ende muss das ja dann auch alles umgesetzt und kontrolliert werden. Das ist verantwortungsbewusstes Handeln - kann aber eben auch schnell in bürokratisches Agieren, oder mehr noch, bürgerfremde Auswüchse ausarten, wenn und weil nur noch formal gedacht und gehandelt wird.

Aber dies bezieht sich nicht nur auf EU-Politikrealisierung, sondern doch genauso auf mitgliedstaatliche Entscheidungsprozesse usw. - die Entscheidungsebenen sind wiederum keine Antipoden. Ich stelle dies hier als permanente Herausforderung fest, denn auch ein Mitglied des Europäischen Parlaments repräsentiert in Deutschland mindestens ca. 840.000 Menschen im EP. Und muss versuchen, sowohl deren Sichtweisen und Fragen, Meinungen und Forderungen aufzugreifen, wie auch die von vielen anderen Bürger*innen in Deutschland als auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten. Ein soziales und demokratisches Europa wird nur hervorgebracht werden können, wenn ich nicht nur Brandenburger bzw. Cottbuser Probleme kenne, sondern auch die von Menschen in Portugal, Griechenland oder Polen - um mal beispielhaft diese Art von Verflechtungen europäischer Politikentscheidungsprozesse aufzuzeigen.

Demokratie bedeutet Volksherrschaft und als solche ebenso demokratische Kontrolle. In Relation zu den gut 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der EU ist meiner Meinung nach auch der viel gescholtene EU-Beamtenapparat nicht unverhältnismäßig groß. Und auch hier weise ich noch einmal darauf hin: Alle EU-Mitgliedsstaaten wollen sich in den EU-Institutionen angemessen vertreten wissen – inhaltlich wie personell. Seien wir ehrlich: Das ist nachvollziehbar unter dem Aspekt der gleichberechtigten Partnerschaft und Zusammenarbeit, oder?

Was werden Deine zentralen Themen in der Parlamentsarbeit sein, wenn man Dich wählt? Was wirst Du garantiert nicht unterstützen?

Das Feld der Internationalen Handelspolitik habe ich in den letzten Jahren intensiv begleitet. Hier würde ich gern fortsetzen und mein Kernanliegen, den ethischen und fairen Handel als grundlegendes Prinzip internationaler Handelspolitik verbindlich vor- und festzuschreiben und somit zur Norm anstelle eines unkonditionierten Freihandels zu machen, fortführen. Handel darf nicht einseitig bevorteilen – da ist bei der Herstellung von Gleichberechtigung zwischen der EU und ihren weltweiten Handelspartnern noch Luft nach oben. Das gilt dann auch für das Weiterbohren am dicken Brett eines verbindlichen UN-Abkommens für die Verantwortung der Unternehmen für die Einhaltung der Menschenrechte und des Umweltschutzes in ihrer Wirtschaftstätigkeit, das gegenwärtig in Genf beim UN-Menschenrechtsrat verhandelt wird.

Besonderes Anliegen ist mir aber auch die Umsetzung bzw. Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030. Hierfür haben wir nur noch wenige Jahre Zeit und es gilt bei diesen Punkten, die Weichen für die kommenden Generationen, unsere Kinder und Kindeskinder, ehrlich und verantwortungsbewusst zu stellen und ihnen eine l(i)ebenswerten Planeten zu hinterlassen. Hierfür haben wir nicht mehr viel Zeit. Packen wir es an!

Ansonsten gilt es aber auch, flexibel bei seinen Themenwünschen zu sein. Die neue Fraktion, die neu gewählten Parlamentsmitglieder unserer Fraktion wollen auch ihre Wunschthemen bearbeiten. Es gilt, kompromissfähig zu sein. Am Ende geht es um die linke Sache, nicht um Ämter und Stellen.

Eines ist aber klar, und hier spreche ich sicher für die gesamte zukünftige linke Fraktion: Militärische Aufrüstung, Unterstützung von militärischen Einsätzen und Interventionen wird von unserer Seite nie Zustimmung finden. Verhandlungen und Gespräche sind immer der einzig wahre Weg. Krieg ist die ultima irratio!

Warum sollte man überhaupt zur Wahl gehen und ist es damit getan?

Ich habe in meinen Antworten versucht darzustellen, dass die EU etwas bewegt, bedeutet und uns auch vor Ort beeinflusst und mitbestimmt. Das sollte niemandem egal sein. Sicher, wir haben bei uns keine Wahlpflicht, Belgien im Übrigen zum Beispiel schon, sondern ein Wahlrecht. Ich habe also das Recht zu wählen, muss es aber nicht. Als Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Landes sollte man sich aber trotzdem dieser Tatsache bewusst sein – es ist in so vielen Teilen unserer Erde mitnichten eine Selbstverständlichkeit. Sich an Wahlen zu beteiligen ist in meinen Augen also nie eine Option, sondern eine Art Verpflichtung. Für dieses Wahlrecht wurde in unserem Land schließlich 1989/1990 auch massenhaft demonstriert.

Und ist es damit getan? Sprich einmal alle vier, fünf Jahre seine Wahlstimme abgeben und gut ist es? Nein, mitnichten! Für eine gute und richtige Wahl muss man auch wissen, wen und was man wählt. Das erfährt man keineswegs durch ein paar Wochen Wahlkampf im Vorfeld einer Wahl, liest man nicht nur aus Wahlprogrammen und erfährt man ebenso wenig nur aus Gesprächen und Interviews mit Kandidierenden, nein. Es gilt, die ganze Zeit das politische Geschehen zu beobachten, das Agieren der Abgeordneten und Parteien zwischen den Wahlen. Ihr Auftreten im Parlament. Machen sie, was sie versprachen? Wie weit gingen sie bei Kompromissen, wo waren rote Linien, ist Glaubwürdigkeit vorhanden? Das sollten mündige Wählerinnen und Wähler ebenso im Fokus haben.

Demokratie und ihre Errungenschaften wie zum Beispiel Wahlen bringen Rechte und Pflichten mit sich. Die Politik agiert nicht im luftleeren Raum. Die Bürgerinnen und Bürger müssen und sollen die Politik kontrollieren. Daher muss auch am 26. Mai für die Kommunalwahlen in Brandenburg und die Wahlen zum Europäischen Parlament gelten: Wahlteilnahme? Selbstverständlich!

Helmut Scholz, Mitglied d. Europäischen Parlaments

May, Europa und drei Lehren

„Mit dem Nein des britischen Unterhauses zum Vorschlag für den EU-Austrittsvertrag haben nun endgültig alle verloren: die Menschen im Vereinigten Königreich, Premierministerin Theresa May und nicht zuletzt EU-Europa,“ kommentiert Helmut Scholz, Mitglied in den beiden für den Brexit federführenden Ausschüssen des Europaparlaments (AFCO und INTA*), die Abstimmung des britischen Unterhauses.

Helmut Scholz weiter: „Natürlich muss die Entscheidung der Mehrheit der britischen Bürger*innen akzeptiert werden. Aber wer die unmittelbar Leidtragenden der Entscheidung sind, ist bereits heute klar: Es sind vor allem die etwa fünf Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger, die im Vereinigten Königreich oder in den EU-Mitgliedstaaten leben und die in eine rechtlich prekäre Situation geraten werden. Die mit der EU-Mitgliedschaft ihrer Staaten erworbenen fundamentalen Bürgerrechte würden einfach verschwinden und es gäbe auch keine Instrumente mehr, diese einzuklagen. Zuzugs- und Aufenthaltsrechte, Arbeitserlaubnisse, aber auch Rentenansprüche, der Zugang zu Gesundheitsdiensten oder die Anerkennung von Berufserfahrungen sind jedoch Grundrechte, die bei einem ungeregelten Brexit nicht auf der Strecke bleiben dürfen. Ebenso wichtig ist es nun, eine tragfähige Lösung – und nicht nur eine Notvariante – für das künftige Verhältnis zu Nordirland zu finden. Wir als Linke im Europäischen Parlament haben stets auf eine Lösung gedrängt, die die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingeleitete Entwicklung fortsetzt. Wenn die in den vergangenen Jahrzehnten gewachsenen Bindungen durchschnitten würden, könnte sich die Lebenssituation der Menschen rapide verschlechtern und alte Konflikte drohten erneut aufzuflammen.“

„Wie auch immer aber die konkrete Ausgestaltung des Brexits aussehen wird und auf welche nächsten Schritte sich die politischen Akteure auf der Insel in den nächsten Tagen verständigen können – EU-Europa muss Lehren ziehen, die weit über den ‚Fall Großbritannien‘ hinausgehen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil eine Politik, die den Interessen der Bürger*innen verpflichtet ist, nicht nur Aufgabe der EU als Ganzes, sondern auch der Regierungen ihrer Mitgliedstaaten sein muss.“

„Lehre eins: Nationale Egoismen, vertreten von Politikerinnen und Politikern, denen innenpolitischer ‚Stimmenfang‘ und die eigene Karriere wichtiger sind als gemeinsame europäische Interessen und v.a. gemeinschaftliche Entscheidungsprozedere, bedrohen die Zukunft der EU. Ja, viel ist zu kritisieren und noch mehr zu verändern an den Zuständen in der EU, deren Politik und ebenso der ihrer Mitgliedstaaten – die europäischen Werte und Fortschritte müssen gegen nationalistische Populisten verteidigt werden, ob diese nun in London oder in Budapest, Prag oder Warschau sitzen.“

„Lehre zwei: Eine Europäische Union, deren konkrete Politik von Bürger*innen als Bedrohung ihrer sozialen Situation, ihrer Jobs und ihres gewohnten Lebensalltags wahrgenommen wird und auf Kürzungspolitik setzt, wird keine Zustimmung erhalten. Verbindliche Sozialstandards, angemessene Mindestlöhne, die Schaffung einer europäischen Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient, sind wichtige Schritte, um die Menschen wieder für Europa zu gewinnen. Auch durch eine entsprechende Politik auf der mitgliedstaatlichen Ebene. Der Thatcher’sche Leitsatz britischer EU-Politik ‚Ich will mein Geld zurück‘ war und ist der Anfang vom Ende gemeinsamer europäischer Integrationspolitik.“

„Lehre drei: Europäische Politik auf allen Ebenen - vom EU-Rat bis zur Kommune muss zurück in den täglichen Dialog mit den Bürger*innen. Das heißt konkret, Entscheidungsprozesse sind konsequent transparent zu gestalten und durchzusetzen. Entsprechende Forderungen in Sonntagsreden von Regierungschefs und -Chefinnen reichen da nicht. Die Bürger*innen müssen mitreden und mitentscheiden können, nicht allein in Alibiveranstaltungen. Das gilt von London über Berlin bis nach Bukarest. Das Europäische Parlament als demokratische Volksvertretung braucht endlich volle Rechte eines Parlaments, auch wenn dies den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten nicht gefällt. Und schließlich: Die EU benötigt die Akzeptanz der Menschen vor Ort, in den Regionen Europas. Das ist nur durch glaubwürdige Politik zu erreichen. Und wenn die Europäische Union dort sichtbar wird, wird die Europäische Idee - von Frieden, Erhaltung der Umwelt, Arbeit für alle, von sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Teilhabe - wieder stärker Fuß fassen.“

*AFCO ist der Ausschuss des Europäischen Parlaments für Konstitutionelle Fragen und damit für Verfassungsangelegenheiten, d.h. in diesem Fall für den ‚Scheidungsvertrag‘ EU-Vereinigtes Königreich zuständig. INTA ist der Ausschuss des Europäischen Parlaments für Internationalen Handel und damit zuständig für den Vertrag zu den künftigen Wirtscahftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich.